Ich bin wieder mal bitz am Stöbern im Nachlass meines Vaters. Also eher geistig und auf Gedankenebene wie materialistisch. Es eröffnen sich für mich seit seinem Tod immer wieder neue Sichtweisen, und interessanterweise lerne ich ihn nun nachträglich von einer etwas differenzierten, mir bis dato unbekannten Seite kennen. Wenn man mal ein bisschen Abstand halten kann, und auch mal loslässt, um dann mit einer gewissen Neutralität wieder auf das Thema eingeht, eröffnet sich manchmal ganz interessante und schöne Erkenntnisse. So auch bei mir bei Dädi.

Allzu viel Detailliertes weiss ich nicht von meinem Vater, er war ein ganz vielseitiger und begnadeter Sportler, Schütze und auch sonst gerne aktiv in diversen Vereinen. Durch seine unheilbare (und anfangs noch gänzlich unbekannte) wachsende Krankheit Morbus Bechterew mussten die diversen von ihm so geliebten sportlichen Aktivitäten leider endgültig eingestellt werden. – Bechterew ist heute noch unheilbar, und eigentlich ungemein brutal. Eine Entzündung im Gelenk erweitert sich zum knöchernen Umbau der Wirbel. Dieses wuchernde Verknöcherung kann sich durchaus auf sämtlicher Gelenke (Nacken/Rücken/Finger/Füsse) des Körpers ausdehnen, und verläuft meiner Erfahrung mit Dädi gegenüber mit sehr schmerzhaften Schüben. Die Krankheit ist noch nicht vollständig erforscht, ein Gegenmittel ist noch in weiter Ferne, und die Aussichten für den Patienten sind recht trist, weil er sich über die Jahre immer weniger bewegen kann, schlussamänd im Rollstuhl landet, und eigentlich so im eigenen Körper unbeweglich wird. Im Falle meines Vaters hofften wir immer, dass sich, wenn alle Gelenke betroffen und überwachsen waren, die Krankheit sich dann nicht mehr ausbreiten (und so jedesmal schubweise höllische Schmerzen bereiten) kann, wir haben dem „ausbrennen“ gesagt.

Auch wenn`s nun wehtut, soweit ist es bei ihm nicht mehr gekommen, was in den nächsten Jahren für unvorstellbare Schmerzen auf ihn hereingestürzt wären (körperlich und auch geistig), davor wurde er -und auch wir- verschont. Die Schübe mussten unvorstellbar schmerzhaft gewesen ein, man hat es ihm jeweils gut angemerkt.

Pragmatisch gesehen war das besser so…

Als gelernter Hochbauzeichner war er einige Jahre für die Firma Variel in Auw tätig. Und dieses Kapitel hat mich chli wunder genommen, dieses möchte ich e bitz für mich beleuchten- Ich erinner‘ mich, das er einige Jahre da gearbeitet hat, als wir in den ’70ern in Auw gewohnt haben.

Die Firma Variel war auf Fertigung von ihrem patentierten Beton-Fertigbauteilsystem spezialisiert. Ende der 1950er Jahre entwickelte der Zuger Architekt Fritz Stucky (welcher bei Frank Lloyd Wright in Amerika ein Architekturpraktikum absolvierte) diese geniale modular aufbaubare Schnellbauweise für Gebäude. In diesen Jahren setzte der Bauboom ein, es wurde überall nach dem Krieg tüchtig gebaut, schneller Bezug der Wohnungen und Gebäude war eminent wichtig.

Die Erfindung „Programm 63» beruht auf einem Gebäude mit mehreren Stockwerken das aus vorfabrizierten Raumzellen gebildet wird. Jede Raumzelle weist eine Bodenplatte und mindestens zwei senkrecht zur Bodenplatte verlaufende Endelemente. Die Raumzellen wurden soweit fertig gestellt, dass sie am Ort nur noch zusammengestellt und bezogen werden konnten (inklusive Installationen und Tapeten). Ein echt revolutionäres System, welches mit den Jahren an Verfeinerung gewinnt.

Mit einer Montagehalle in Auw etablierte die Variel AG eine Produktionsstrasse nach rationellen Prinzipien, an der Fachkräfte aus insgesamt 17 Berufen in einem koordinierten Ablauf den Roh- und Ausbau mit typisierten Bauteilen witterungsunabhängig und in gleichbleibender Qualität anfertigten. Es war eine Art Fertigungsstrasse, so wie es auch beim Autobau anzutreffen war.

Mit dem Bau zahlreicher Schulen und Kindergärten gelang der neu gegründeten Niederlassung in Deutschland bald, was in der Schweiz noch bitz zäh verlief: Die serielle Produktion von Systembauten. Weitere Lizenzverkäufe nach Frankreich und in die Beneluxstaaten folgten. Zwischen 1959 und 1974 wurden in der Region Paris Variel-Bauten mit rund 12’000 Raumelementen produziert, in Deutschland stellte man ca. 9500, in den Niederlanden und Norddeutschland je knapp 7500, und in Auw etwa 4500 Raumelemente her. Im Zuge der Rezession in Europa verlagerten sich die Absatzmärkte zudem ins aussereuropäische Ausland, nach Algerien, Südafrika und Venezuela. Ende der 1970er Jahre hatte Fritz Stucky Lizenznehmer in 40 Ländern und 13 Fabrikationsstandorte weltweit.

Und das aus dem kleinen Schweizer Bauerndorf Auw mit rund 800 Einwohnern.

Ein Beispiel seines Erfolges sei hier angegeben: Die Gemeinde Hauterive nahe Neuchâtel entschied 1967, 41 Raumelemente bei der Variel zu bestellen für ihr neues Schulhaus mit neun Klassenzimmern. Innert drei Tagen montierte ein leistungsstarker Pneukran die in Auw gefertigten Elemente auf den vor Ort gegossenen Betonsockel. Nach vier Monaten war der Bau bereits bezugbereit, und konnte den Lehrern und Schülern übergeben werden.

Einige Bauten aus dieser Zeit stehen immer noch, und eigentlich wäre eine Unterschutzstellung gelungener Bauten würdig. Die ersten sieben Jahre meines Lebens habe ich auch in einem so einen Variel-Block gelebt, und ich hätte es nie für möglich gehalten, dass diese Wohnung aus fixfertigen Elementen bestehen würde. Heute interessieren mich die Bauten eher aus architektonischen Beweggründen, ich finde die klare Sprache der Bauweise grossartig, die modular auf(und-aus)baubare Weise der Baukörper nach wie vor einfach eine geniale Idee.

So schnell wies obsi ging, gings leider auch nidsi: Auf den Bauboom und die gesteigerte Nachfrage nach billigen Baumöglichkeiten reagierte die Bauwirtschaft bald nicht mehr mit vermehrtem Einsatz der vorgefertigten Serienteile von Variel, sondern mit Anwerbung billiger Arbeitskräfte aus dem Ausland. Das industrielle Bauen geriet auch in Verruf, weil es Arbeitsplätze zu vernichten schien.

Die Firma geriet etwas in Vergessenheit, und die Hallen in Auw wurden bald dem Erdboden gleichgemacht. Heute findet man nur noch vereinzelt gut erhaltene Bauzeugen wie die Villa Mijnssen in Zug am See,  oder eben den erwähnten Wohnblock im Unterdorf in Auw, diverse Schulhäuser und Turnhallen in der Schweiz (von Grenchen über Bern, Baar, Hägendorf, Winterhur, Romanshorn bis Thusis) und im Ausland, Verwaltungsgebäude wie bei der Brauerei Feldschlösschen Rheinfelden, das Haupthaus Reusspark Gnadental, die Kantonsschule Zug, die psychiatrische Klinik Königsfelden, oder das Kantonsspital Aarau.

Und vielleicht bist ja du auch in einer der Pavillons der Variel in die Schule gegangen?

Ich jedenfalls halte immer bitz die Augen offen, denn die Bauten sind echt charismatisch.

Dass Dädi bei Variel als Hochbauzeichner gearbeitet hat, macht mich – wenn auch erst jetzt im Nachhinein-irgendwie scho no chli mächtig stolz.

Kategorien: Persönliches

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